Haben Sie heute Morgen in den Spiegel gesehen? Wahrscheinlich, wobei es unerheblich ist, ob Sie die dort erblickte Wirklichkeit als eher erhebend empfanden oder nicht. Hauptsache, Sie haben in den Spiegel gesehen.
Mit dem Theater verhält es sich ganz ähnlich. Auf der Bühne sehen wir in Wirklichkeiten. Diese sind dann oft leicht verschoben, etwa ins heldenhaft Monumentale, ins rührend Sentimentale oder auch ins pädagogisch Belehrende. Glauben Sie mir, jeder Schüler der Q11 kann nach der Begegnung mit Dramen der Aufklärung und Klassik weidlich davon berichten.
Das mit der gespiegelten Wirklichkeit ist aber immer dann besonders reizvoll, wenn der Spiegel einen leichten Schaden hat und die in Szene gesetzte Realität sich grotesk, also verzerrt und dann absurd, darstellt. So geschehen in der Aufführung der zwölf Minidramen von Ken Campbell, die unter dem für sich sprechenden Titel „Mr. Pilks Irrenhaus“ zusammengefasst sind.
Geradezu irre Situationen haben die Schauspielerinnen und Schauspieler um Regisseur Marius Lubnow auf die Bühne gebracht, wobei viel hochprozentiger Captain Köster floss und noch mehr Tote auf die Bretter fielen. Und noch viel mehr aus Absurdistan: Da ist der Sohn, der die nervende Mutter per eierlegendem Trick endlich los- und ins Irrenhaus bringt, der Eisbären züchtende Gringo aus einem südamerikanischen Wasweißichwoher, der in das beschauliche Leben eines Kleinstadtpaares einbricht, dem Mann die Frau ausspannt und beide am Ende auf seine Weise erledigt. Oder aber die beiden Ehefrauen, von der je eine der anderen unsichtbar ist, die beide jedoch von dem einen Ehemann gesehen werden. Sie arrangieren sich damit, ihn freut es. Wiederum recht nah an der Wirklichkeit ist das Ehepaar, das sich auf einem italienischen Polizeirevier mit Händen und Füßen mitzuteilen versucht. Das kann man kennen. Allerdings parkt draußen die aufs Autodach gespannte und in die Zeltbahn eingewickelte tote Schwiegermutter. Grotesk! Das Auto ist übrigens dann weg. Das kennt man wieder.
Mit viel Gefühl für Sprache und Sprachspielereien gingen die jungen Schauspielerinnen und Schauspieler engagiert und überzeugend zu Werke. Das Absurde so gekonnt auf dem schmalen Grat zwischen Komik und Tragik zu spielen, ist eine wirkliche Kunst. Nach diesem Karussell aberwitziger Geschichten drehen sich beim Betrachter die Dinge im Kopf, und man fragt sich spätabends: Hat der Spiegel einen leichten oder ich einen Dachschaden? R.S.